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It’s okay not to be okay - Von der Überforderung und einer Gesellschaft die damit nicht umgehen will

Dann war es da. Dieses wunderschöne Kind, das hübscheste, was ich bis zu diesem Zeitpunkt je gesehen hatte. Ich wusste ja nicht, wie viel schöner mein kleiner Junge von Tag zu Tag noch werden sollte. Die ersten Tage hat er viel geschlafen, sich von der anstrengenden Reise und den Strapazen erholt, die er hinter sich hatte, Kraft getankt für das neue Leben, was da vor ihm lag. Fast immer schlief mein Baby bei mir. Im Arm, auf dem Bauch, auf den Beinen. Ich hingegen konnte nicht schlafen, musste ihn andauernd ansehen, wie er so friedlich da lag. Dem gegenüber stand das andere Extrem: mein weinendes, schreiendes Baby, was sich nicht anders auszudrücken vermochte, was immer weiter schrie. So manches Mal war ich in einer solchen Situation überfordert. Hatte er Hunger? War ihm zu warm? Oder zu kalt? War es eine volle Windel? Wollte er einfach nur näher an mich heran, um geborgen und warm zu kuscheln? Oder wollte er schlafen und konnte nicht?

 

Ich wusste es nicht. Wie oft wusste ich es einfach nicht. Und nicht nur zu Beginn unserer gemeinsamen Reise, nein, auch später noch. Ich war verzweifelt, wenn ich wieder einmal alles versucht hatte und doch nichts half, weder stillen noch kuscheln, singen, herumtragen, Windel wechseln… 

Es ist vollkommen normal auch mal überfordert zu sein

Es ist vollkommen normal auch mal überfordert zu sein. Der eine mehr, der andere weniger. Das sagt nichts, aber auch rein gar nichts darüber aus, ob frau eine gute oder schlechte Mutter - oder man ein schlechter Vater - ist. Irgendwann machen Eltern das alle zum ersten Mal, werden in dieses Abenteuer katapultiert, ohne auch nur eine leise Ahnung davon zu haben, was das eigentlich genau bedeutet. Die einen haben ein weiteres Nervenkostüm, die anderen ein weniger forderndes Kind. Es bringt nichts, sich mit Freunden, Bekannten oder gar Menschen auf Instagram und Co. zu vergleichen. Die Situation ist anders. Jedes Kind ist anders, jede Beziehung, jeder Mensch.

 

Einmal gab es eine Situation, da saß ich schluchzend unter Tränen vor meinem weinenden Kind. Ich war komplett auf: wenig Schlaf, hundemüde, Hunger seit Tagen und vor mir sitzt dieses kleine Wesen und brüllt sich, wie aus dem Nichts, die Seele aus dem Leib. Eben hat er noch gut zu Mittag gegessen, auf einmal verweigert er jeden Löffel, schlägt ihn mir sogar aus der Hand. Immer wieder habe ich es probiert, habe ihn angefleht, er mögen mir doch irgendwie zeigen, was er hat, was er will. Verdutzt hörte mein Kind auf zu weinen, schaute mich aus großen, tränennassen Augen an. Es war verwundert, denn so hatte es mich noch nicht gesehen. Aber schon kurze Zeit später stieg es wieder ein, schluchzte wieder mit und fing laut zu schreien an. 

Nachdem ich meine Tränen losgeworden war, ging es mir besser. Ich nahm mein weinendes Baby wieder aus seinem Stuhl auf den Arm und trug es weiter in der Wohnung umher. Eine Weile dauerte es noch, aber dann schlief der Kleine ein. Ich weiß bis heute nicht was er hatte. Natürlich kann ich spekulieren, mutmaßen und mit einem wissenden Mami-Blick und einem dazugehörigen Kopfnicken sagen: „Er brauchte wohl einfach meine Nähe“, aber ist das wirklich so? Der Kinderarzt meines Sohnes sagte einmal auf eine solche Frage zu mir: „Das kann sein. Wissen können wir das aber nicht, wir können weder in die Kleinen hineinschauen, noch können sie uns einen Einblick in ihre Gedanken- und Gefühlswelt geben, in dem sie uns einfach sagen was los ist. Das geht nicht. Es bleibt ein großes Mysterium und Frau oder Mann kann nichts weiter tun als ausprobieren.“

Keine Kurse, keine Vorbereitung: Ich betrete vollkommen unbekanntes Terrain. Danke Corona!

Wie gern hätte ich einen Kurs besucht, um mich wenigstens ein bisschen vorzubereiten auf das, was mich erwartet. Ich bereite mich grundsätzlich auf wichtige Dinge in meinem Leben vor. Bewerbungsgespräche, Vorträge, Pitches, Reisen. Ich plane nicht alles strukturiert durch, denn ich möchte mir immer die Möglichkeit lassen, spontan auf etwas reagieren zu können, aber ich bereite mich vor, lese mich ein, bin gewappnet für das, was kommt. Auf ein Kind war ich nicht vorbereitet, zumindest nicht so, wie ich es gerne gewesen wäre und das, obwohl ich so lang Zeit hatte. Mental habe ich mich natürlich mit dem Gedanken auseinandergesetzt, habe im Netz und in Büchern gelesen, das ein oder andere YouTube Video geschaut, mit dem kleinen Baby in meinem Bauch geredet, es gefühlt. Aber von und durch andere, die sich - vielleicht sogar beruflich - damit auseinandersetzen, gab es während dieser Schwangerschaft und in den ersten Monaten nach der Geburt keine - oder sagen wir wenig - Hilfe. Natürlich nicht, denn sämtliche Kurse wurden abgesagt. Danke Corona, du bist ein A***. Nichts hat stattgefunden, die Krankenhäuser, Hebammen, Ärzte, sie alle mussten erstmal lernen mit der Pandemie umzugehen. So gut wie niemand hat damit gerechnet, dass das alles so lang andauert. Im Internet gab es zwar einiges zu finden, aber so ausgebaut und vernetzt waren Hebammen, Ärzte etc. noch nicht. Es gab keinen ansprechenden Geburtsvorbereitungskurs, keine Führung durch den Kreissaal, keine verfügbaren Hebammen-Sprechstunden. Ich war wohlgemerkt nicht die einzige Schwangere in 2020. ;)

Eines aber konnte ich machen: Schwangerschaftsgymnastik. Zwar nicht in einem Kurs, denn auch hier war aufgrund des geringen Angebots online bereits alles ausgebucht aber doch via Videos auf den verschiedenen Social Media Plattformen. So wusste ich immerhin, welcher Sport geeignet für mich war und auf welche Übungen ich lieber verzichten sollte. 

 

Ich denke, dass auch dieses Unvorbereitetsein einen Teil zu meiner Überforderung beigetragen hat.

Inzwischen gibt es ein deutlich breiteres Angebot. Kliniken bieten Online-Führungen, es gibt immer mehr digitale Geburtsvorbereitungskurse und auch die Hebammen haben ihren Arbeitsplatz, soweit es möglich ist ins Netz verlegt. Außerdem kann und darf aufgrund der Impfungen und Corona-Bestimmungen auch wieder viel mehr im realen Leben stattfinden.

„Du bist seine Mama, du weißt was er braucht.“ - Wie ich als Mutter versage

Wie sehr habe ich diesen Satz gehasst - und tue es auch immer noch. Wie sehr hat er mich verunsichert, unter Druck gesetzt. Jedes Mal, wenn ich dieses kleine, weinende Bündel in meinen Armen gewiegt habe und nicht wusste, warum es schreit. 

Auch dieser Satz trug zur Überforderung bei, denn er impliziert, er setzt voraus, dass es mir als Frau einfach Gott gegeben sein muss, mein Kind von der ersten Sekunde an zu verstehen. Die ein oder andere Mama tut das vielleicht auch. Ich aber nicht. Ja natürlich, ich habe leise Ahnungen, aber ich werde nicht mit Bestimmtheit sagen: „Ich fühle was er hat, ich weiß was er braucht. Immer. Ich bin seine Mutter.“ Wir lernen uns doch gerade erst kennen, müssen uns aneinander gewöhnen, der Kleine muss sich überhaupt erst einmal daran gewöhnen, jetzt in dieser riesig-großen Welt zu sein. Und das dauert - meiner Erfahrung nach - nicht nur ein paar wenige Tage nach der Geburt. Es dauert Monate. Es tut mir leid, wenn ich der ein oder anderen Mama oder zukünftigen Mama damit diesen Anker nehme, aber ihr segelt mit einem Baby einfach in ungewissem Gewässer. Das Pauschalisieren macht es nicht besser und zumindest in meinem Fall auch nicht einfacher.

 

 

„Du bist seine Mama, du weißt was er braucht“, führte mir jedes Mal ein krasses Versagen vor Augen und zwar immer dann, wenn ich eben nicht wusste, was mein Kind gerade benötigt. Ich musste mich da erst herantasten und dabei spielte es nicht die allerentscheidenste Rolle, ob ich seine Mutter war oder nicht. Ich musste probieren, Dinge versuchen, andere ausschließen. Aber immer wieder wurde dieser Glaubenssatz von der allwissenden Mama wiederholt, von Verwandten, befreundeten Müttern, Vätern, sogar von meiner Hebamme: „Mach dir keine Sorgen. Du weißt ganz intuitiv was gut für dein Kind ist“, oder „Ich kann dir nicht helfen. Du bist die Mutter, du musst wissen, was er hat.“ Und manchmal, da wusste ich es eben nicht und fühlte mich in diesen Momenten so schrecklich, dass ich glaubte, als Mutter versagt zu haben.

„Wenn du nicht mal das kannst, was kannst du dann?“

Aber warum sprechen wir nicht darüber? Warum geben wir nicht einfach offen zu, auch mal überfordert zu sein? Ich glaube, es ist die Angst vor dem Urteil anderer und vielleicht auch vor dem eigenen Urteil. Denn, ganz banal herunter gebrochen, ist das Kinderkriegen, sie aufziehen und mitunter auch erziehen, das ureigenste, was eine Frau können muss. Und bitte, versteht mich nicht falsch, das ist NICHT meine Meinung. Es ist nur eine weitverbreitete Ansicht, die sich aus einem Fakt (der Möglichkeit des Kinderkriegens) heraus entwickelt hat, die ich nicht teile, die aber scheinbar noch immer in dieser Gesellschaft grassiert. Wie ein Virus, mal ganz offen und laut und dann wieder still und heimlich, fast unbemerkt.

Sprechen wir also nicht darüber - oder zumindest viel zu wenig - weil uns eine potentielle Überforderung das Muttersein aberkennt und damit vielleicht sogar das Frausein? [Auch hier muss ich kurz einwerfen, dass Frausein überhaupt gar nichts mit Muttersein zu tun haben muss und auch das Muttersein nicht unbedingt mit Frausein gleichzusetzen ist.]

 

Diese Abwertung funktioniert nach dem Motto: „Du bist überfordert bedeutet, du bist eine schlechte Mutter, du kannst also nicht mal das, was dir die Natur oder Gott oder wer auch immer von Grund auf mitgegeben hat. Wenn du das nicht kannst, was kannst du dann?“ Ich muss zugeben, auch ich habe auf meiner Reise als Neu-Mama solche Gedanken gehabt. Aber ich habe sehr schnell gemerkt, dass es mir hilft darüber zu reden. Mein Mann war in diesen Zeiten mein wichtigster Ansprechpartner. Aber auch mit anderen Mamas sprach ich über meine Zweifel, über meine Verzweiflung und meine Überforderung. Und das sehr radikal. Ob es jemand nun hören wollte oder nicht, ich wollte brechen mit dem „alles läuft von ganz allein“. Auch wenn ich anfangs eher kritisch beäugt oder gemustert wurde, haben sich doch nach und nach immer mehr Mamas aus der Deckung gewagt und von ihren Zweifeln berichtet, von Situationen, in denen sie nicht mehr konnten, nicht weiter wussten. 

Ein Appell: Seid laut und redet über die Momente der Verzweiflung

Wir sitzen alle im selben Boot. Ich möchte euch bitten, sprecht laut darüber, über all das, was eben auch mal nicht geklappt hat und dann schreit wieder heraus, was gut gelaufen ist. Beides motiviert und unterstützt andere Mütter. Und es zeigt uns, dass es okay ist, auch mal überfordert zu sein in diesem Riesenrad der Emotionen, in dem wir Monate und Jahre unterwegs sein werden.  

 

Überforderung, das klingt immer gleich nach „Sie schüttelt ihr Kind“, aber so ist es nicht. Es ist ganz normal und vollkommen okay und genau das, muss die Gesellschaft verstehen. Das darf kein tabu-Thema sein, damit sich mehr Frauen trauen, darüber zu sprechen, denn nur so wird auch eine überforderte Mutter in der Gesellschaft akzeptiert und erkennt, dass sie ihre Sache eben nicht schlechter macht als andere, dass sie nicht versagt. 

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