Das Buch zur Reise auf dem Jakobsweg
Zum Glück gelaufen ist seit Ende April 2022 im Buchhandel erhältlich. Das es dort überhaupt hingekommen ist, war ein langer Weg, denn eigentlich war es niemals meine Intention, ein Buch über diese sehr persönliche, sehr intime Reise zu veröffentlichen. Das, was dort jetzt gedruckt in den Regalen steht oder digital erhältlich ist, ist ein großer Teil meines Tagebuches, was ich während meiner Weitwanderung geführt habe.
Dieses Tagebuch war eines, in das ich immer wieder hineingeschaut, für das ich mir Zeit genommen habe, um zu reflektieren, um mich an Dinge zu erinnern, die ich auf diesem Weg gelernt habe, die mir im Alltag aber gelegentlich wieder abhanden gekommen sind. Ich wollte mich erinnern, mir das Gelernte bewusst machen. Also entschloss ich mich, mein Tagebuch "ein wenig schöner" zu schreiben, es für mich angenehmer zu lesen zu machen. Und während dieses Schreibprozesses reifte in mir eine Idee heran: Ich könne das Buch doch eigentlich mal an einen Verlag schicken, vielleicht hätte ja jemand Interesse. Dass der Weg hin zum eigenen Buch ein ganz anderer ist, nämlich der, über eine Literaturagentur - zumindest für mich - wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Wie dem auch sei, seit Ende April steht Zum Glück gelaufen nun in den vielen, vielen Buchhandlungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Und jedes Mal, wenn ich das Buch in einem der Regale stehen sehe, macht mein Herz einen kleinen Hüpfer und ich freue mich diebisch. Wie vor kurzem in Büsum, als ich nur ein neues Malbuch für meinen Sohn kaufen wollte und auf dem Weg zur Kasse plötzlich an meinem eigenen Buch vorbei lief. Das ist einfach noch immer total surreal.
Der Blick ins Buch
Worum geht es eigentlich in Zum Glück gelaufen?
Es geht um ein Mädchen, Andrea, die sich nach knapp acht Jahren aus einer toxischen Beziehung löst. Doch schnell stellt sie fest, dass sie wirklich gelöst noch gar nicht ist. Sie weiß nicht so recht, wo sie hingehört in dieser Welt. Eine Frage, die sich viele von uns schon gestellt haben. Und so macht sie sich eben auf die Suche nach Antworten auf die unzähligen verschiedenen Fragen, die ihr im Kopf herumschwirren. Wonach sie genau auf ihrer Reise sucht, dass weiß sie nicht. Was sie aber findet sind wundervolle Freunde, ihren späteren Mann, vor allem aber sich selbst, die unabhängige junge Frau, die ihr einst verloren ging. Ja, es ist eine Liebesgeschichte aber keine klassische im eigentlichen Sinn. Es kommt nicht der Prinz auf dem weißen Pferd angeritten, der die Prinzessin aus dem Turm rettet. Die Prinzessin ist keine Prinzessin, sondern eine Kämpferin, die sich selbst befreit, die sich selbst rettet. Und dabei hat sie die Unterstützung von vielen großartigen Menschen, denen sie begegnet, mit denen sie spricht und die ihr, mal wissentlich, mal nicht, die richtigen Impulse an die Hand geben. Es sind die Begegnungen mit anderen, die Andrea letztlich weiterbringen und die sie verändern. Die Frau, die am Ende dieses Buches ankommt, ist nicht mehr die, die zu Beginn losgelaufen ist. Sie hat sich verändert. Wollt ihr mal reinlesen in das Buch? Hier gibt es jetzt einen kleinen Einblick.
Beginn einer Reise
»Das Wichtigste ist,
dass du ehrlich zu dir selbst bist.
Stehe zu dem, was du denkst,
und stehe auch dafür ein, denn das macht dich aus.«
Saint-Jean-Pied-de-Port (9. September)
»Die Passagiere des Flugs AF4357 nach Toulouse werden ge- beten, zum Gate B37 zu kommen.« Klick! Es ist, als hätte die Flughafenmitarbeiterin einen Telefonhörer aufgelegt und wir alle hätten am anderen Ende der Leitung gewartet. Die Stimme wiederholt die Ansage noch einmal auf Französisch. Klick! Wie- der aufgelegt. »Ich glaube, ich muss gehen«, sage ich zu Daniel, der mir erwartungsvoll gegenübersteht. Meinen Rucksack habe ich bereits am Gepäckschalter aufgegeben. Nur mit meiner alten blauen Gürteltasche aus den Neunzigern in der Hand fühle ich mich nackt – als würde etwas fehlen. Zum Beispiel eine große Handtasche, wie ich sie üblicherweise trage. Statt dieser hänge ich mir nun das Eastpak-Täschchen über die rechte Schulter und trete auf Daniel zu, nehme ihn in den Arm. Er steht einfach da und lässt es über sich ergehen. Ich löse die Umarmung. Dicht an dicht stehen wir voreinander. Ich kann seinen warmen Atem auf meinem Gesicht spüren. Die Mundwinkel verziehe ich zu dem Versuch eines Lächelns. Als ich mich zum Gehen wende, wirft Daniel beide Arme um meine Schultern: »Ach, komm her«, sagt er, wie er es zu einem alten Kumpel sagen würde, und drückt mich zum Abschied. Einige Minuten lang hält er mich so, drückt mich fester und fester. Ich streiche ihm über den Rücken und dann, obwohl ich das eigentlich gar nicht will, küssen wir uns – seit Langem mal wieder und zum letzten Mal vor meiner Reise. Seine Lippen sind ganz weich, genauso wie seine Hamsterbäckchen. Der Kuss hat nichts Leidenschaftliches, nichts Inniges, aber etwas Vertrautes. Er lockert die Umarmung, und ich trete ein paar Schritte zurück: »Mach’s gut«, sage ich. »Pass auf dich auf«, antwortet Daniel. Als ich mich schon umgedreht habe und einige Meter weit gegangen bin, ruft er mir ganz untypisch für sich hinterher: »Ich liebe dich!« Ich gehe weiter, als hätte ich es nicht gehört. Will mich nicht umdrehen, will ihm keine Regung zeigen. Die Worte aber lassen mich innerlich erstarren. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er sie in der gesamten Zeit unserer Beziehung je laut gesagt hätte. Sie wurden höchstens auf Geburtstags- oder Weihnachtskarten geschrieben – doch meist stand dort »Hab dich lieb!« oder, wenn große Gefühle im Spiel waren, »Lieb dich!« Und nun sagt er diese Worte. Nun, da wir kein Paar mehr sind, will er mich nicht verlieren. Jetzt nicht mehr.
Im Minibus vom Flughafen Toulouse zum Bahnhof Matabiau fahren wir an vielen kleinen das Stadtbild schmückenden Bou- tiquen, Brasserien und Cafés vorbei und kreuzen zweimal die Garonne. Es ist Anfang September, und der Fluss trägt nur sehr wenig Wasser. Ob es wohl ein heißer Sommer war? Die Stadt selbst aber ist üppig grün, überall sehe ich kleine Garten- und Parkanlagen. Die Menschen auf den Straßen stammen anschei- nend aus allen Ecken und Enden dieser Welt. Als wir an einer Ampel warten, überquert eine Gruppe indischer oder pakistanischer Geschäftsmänner vor uns die Straße. Sie tragen dunkle Anzüge und Krawatten und auf dem Kopf bunte Turbane in den prächtigsten Farben. Der zähe Verkehr führt uns dann weiter an einem kleinen bemoosten Kanal entlang, der gut ein Nebenarm der Garonne sein könnte. Er sieht romantisch aus.
Wie ich so auf dem Boden des Toulouser Bahnhofs an eine Schaufensterscheibe gelehnt sitze, mit meinem immer noch viel zu heißen Kaffee in der Hand, sichte ich meinen ersten Pilger. Mein Herz macht vor Aufregung einen Hüpfer. Der alte Mann mit seinem weißen langen Bart, einem Tirolerhut und braunen Lederhosen erinnert mich an Heidis Großvater, den Alm-Öhi. Ich hätte ihn nicht in Südfrankreich, sondern eher in den Alpen vermutet. Er steht, die Augen geschlossen und den Kopf auf die Hände gestützt, die seinen riesigen Wanderstab umklammern, leicht vor- und zurückschwankend in einer Ecke des Bahnhofs. Ob er wohl schläft?
Eine Stunde später bin ich endlich im Zug. Es geht mit dem TGV 8510 nach Bordeaux, von dort nach Bayonne und anschließend mit einem Bummelzug durch die Berge weiter bis Saint-Jean-Pied-de-Port, meinem heutigen Ziel und dem morgigen Startpunkt meiner Wanderung. Es tut gut, jetzt weiterzukom- men. Ich warte nicht gerne, erst recht nicht an einem Bahnhof, an dem ich nicht viel machen kann. Die Fahrt aber genieße ich sehr, schaue mir die am Fenster schnell vorbeifliegende Gegend an. Nie zuvor war ich in diesem Teil Frankreichs. Hier stehen Palmen direkt neben Nadelbäumen. Die Häuser sehen aus wie in Spanien. Allerdings sind die Frauen eleganter gekleidet, sehr adrett, in feinen Stoffen und hochhackigen Schuhen. Die Haare sind locker zusammengebunden. Perfektion in casual, unnatürlich natürlich. Gerade hier in Frankreich, dem Land der Mode und des Stils, komme ich mir in meinem bunt karierten Wanderhemd, der braunen Wanderhose, an der man die untere Hälfte der Hosenbeine mittels Reißverschluss abtrennen kann, um schnell und einfach statt langer eben kurze Hosen zu tragen, und der ziemlich lächerlichen, aber doch unglaublich praktischen blauen Eastpak-Gürteltasche auf meinem Schoß albern und modisch absolut deplatziert vor. So oder so ähnlich stelle ich mir einen Bauerntrampel vor. Ja, ich glaube, ich entspreche momentan genau meiner Vorstellung eines Trampels.
Beim Einstieg in den Zug in Bayonne erkenne ich schon an den vielen Pilgern auf den Sitzplätzen, dass ich hier richtig bin. Einer von ihnen ist definitiv deutsch – er hält ein kleines gelbes Wörterbuch in der linken Hand und liest darin: »Spanisch«, steht auf dem Einband. Der Pilger hinter dem Büchlein ist etwa in meinem Alter. Mit seiner Halskette, dem welligen blonden Haar und dem sonnengebräunten Teint sieht er aus wie ein kalifornischer Surferboy aus Venice Beach. Neben ihm auf dem Sitz liegt ein hübscher beigefarbener Havannahut. Auf seinem leuchtend blauen T-Shirt prangt ein Logo in Form einer Welle. Er trägt Bermudas und blau-weiße Havaianas. Irgendwie fehlt ihm nur noch der Longdrink in der Hand oder das Surfbrett unterm Arm. Ein anderer Passagier hier im Zug ist Italiener, er hat gerade jemandem am Telefon erzählt, dass er die nächsten Monate als Pilger unterwegs sein werde. Ein Weiterer könnte Franzose sein, das kann ich aber nicht mit Sicherheit sagen. Er spricht sehr gut Französisch und sieht exakt aus wie François Hollande – lediglich mit einem dickeren Bauch, brauner Gürteltasche und dunkelgrünem Trekkingrucksack. Lustig! Was wohl der ehemalige französische Präsident sagen würde, wenn er sich so sehen könnte? Falls ich ihm auf dem Weg noch einmal begegnen sollte, werde ich ihn nach einem gemeinsamen Foto fragen! Mir gegenüber sitzt eine etwas fülligere Mittdreißigerin in roter North-Face-Jacke, kurzer Wanderhose und mit einem blauen Stirnband. Sie lächelt mir ein paarmal zu und kramt dann ihr Buch aus der Tasche. Ein Krimi. Auf Deutsch. Also noch eine Landsfrau. Allerdings hätte ich mir das auch schon anhand der Jacke denken können. Ich schaue schnell wieder auf. Nicht dass sie mitbekommt, dass ich den Titel ihres Buches gelesen habe: Auf Unterhaltungen mit Deutschen habe ich so gar keine Lust momentan. Das ist schließlich meine Reise, und ich mag jetzt nicht erklären, wieso, weshalb, warum ich sie antrete oder irgendetwas sonst – weder dem Kalifornientyp noch Miss Molly Moppel. Der Zug fährt los.
Auf zur letzten Etappe für heute!
Wir fahren quer durch die Pyrenäen, besser gesagt, durch die Pyrénées-Atlantiques – auf jeden Fall mitten durch viele Berge, hinauf und hinunter.
Es ruckelt wie bei der Harzer Schmalspurbahn, mit der unzählige Touristen den Brocken, den höchsten Berg
Mitteldeutschlands, erklimmen. Die Landschaft ist gebirgstypisch. Saftige grüne Wiesen werden von hohen Bäumen, drahtigem
Ge- strüpp, kargen Felsen, kleinen Wasserfällen und Bächen abgelöst. Parallel zu einem reißenden Fluss, dessen
glasklares Wasser sich seinen Weg durch das Bergmassiv bahnt, fahren wir vorbei an tie- fen Schluchten und steilen
Abhängen. Noch im Mai habe ich aus dem Flugzeug auf diese gewaltigen Berge hinuntergeschaut und gedacht: »Irgendwann
einmal!« Jetzt bahne ich mir meinen Weg mitten zwischen ihnen hindurch. Ich bin meiner kleinen Reise also tatsächlich
schon ein ganzes Stück näher gekommen. Aber beim
Anblick dieser majestätischen Berge und hohen Gipfel drängt sich mir die Frage auf, wie ich kleiner, schwacher und zudem noch un- glaublich untrainierter Mensch dieses Gebirge bezwingen soll. Ein flaues Gefühl macht sich in meiner Magengegend breit. Ich weiß es nicht. Aber ich werde es sehen ... morgen!
Vom Bahnhof in Saint-Jean-Pied-de-Port bis zu meiner Herberge sind es nur wenige Hundert Meter. Es ist bereits dunkel und die schmalen Gassen im Ort sind nur noch schemenhaft zu erkennen. Als ich dann das alte steinerne Gebäude betrete, strömt mir ein intensiver Duft von Fichtennadeln und Zedernholz entgegen – wie in einer finnischen Sauna. Sofort fühle ich mich wohl. Viele Schlafplätze gibt es in der Auberge du Pèlerin nicht. Zwei Zimmer mit jeweils vier Doppelstockbetten, also für insgesamt sechzehn Pilger. Ich hoffe, die wollen nicht alle gleichzeitig morgen früh um 6:30 Uhr aufstehen und unter die Dusche. Apropos Dusche: Unter der war ich direkt nach meiner Ankunft auch schon ... brr ... Fußpilzalarm hoch zehn. Der Boden der Duschen ist eine Zumutung, und es kostete mich arge Überwindung, die Kabine zu betreten. Sehnsuchtsvoll dachte ich an die Havaianas des Surferboys. Ich hätte wirklich unbedingt Flipflops oder Badelatschen mitnehmen sollen. Auf der Packliste der Jakobusgesellschaft hatte also nicht grundlos hinter dem Punkt Badelatschen ein dickes Ausrufezeichen gestanden, aber ich hatte nur an das geringstmögliche Gewicht gedacht und die Latschen zu Hause gelassen. Immerhin gibt es warmes Wasser. Das wird es nicht überall auf dem Weg geben.
Ich mache es mir auf meinem Hochbett bequem und begut- achte meine Fußsohlen. Unter dem mittleren Zeh hat sie sich versteckt: meine erste Blase. Wie sollen diese zartbesaiteten Stadtfüßchen, die zumeist in schicken Pumps oder bequemen Sneakers stecken, 800 Kilometer laufen, wenn sie nicht einmal einen Tag Fliegen und Bahnfahren in neuen Schuhen überstehen? Zugegeben, es ist auch reichlich dämlich, neue, noch nie getragene Schuhe mit auf eine Wanderreise zu nehmen – auch wenn diese nur für die Nachmittage gedacht sind. Dafür habe ich heute aber schon weitaus mehr Kilometer zurückgelegt, als ich auf dem gesamten Camino gehen werde, und das an einem einzigen Tag. Von Berlin nach Saint-Jean sind es über Toulouse und Bayonne etwa 1.600 Kilometer. Zufrieden kuschle ich mich in meinen Schlafsack. Im Pilgerbüro habe ich mir vor dem Ein- checken in die Herberge noch schnell meinen ersten Stempel ins Credencial, meinen Pilgerausweis, geben lassen. Damit ist es offiziell: Ich bin Pilgerin.
Roncesvalles (10. September)
Wie erwartet stehen heute Morgen alle etwa zur gleichen Zeit auf. Das Frühstück, bestehend aus getoastetem Brot mit Butter und Marmelade, einem Orangensaft und Kaffee ohne Ende, gibt es unten in einem kleinen rustikalen Aufenthaltsraum. Auch hier duftet es nach Fichtenholz wie in einer finnischen Sauna. Eine junge Asiatin mit kantiger Brille und Pink-Floyd-T-Shirt geht mit einer altweißen Porzellankanne herum und schenkt Saft nach. Sie versteht kaum Englisch, doch mit Händen und Füßen, Mimik, Gestik und einer Mischung einzelner englischer und französischer Wörter verständigen wir uns, und ich erfahre, dass sie hier in Frankreich eine Art freiwilliges soziales Jahr absolviert. Ihre Möglichkeit, ein wenig von der Welt zu sehen. Außerdem liebt sie die französische Sprache und hat schon viel gelernt. Ich bekomme leider nicht heraus, woher sie genau kommt. »Asia!«, sagt sie immerzu, und wenn ich nochmals nachfrage, antwortet sie auf Französisch: »Je vis maintenant en France!«, und lächelt mich erwartungsvoll an. Ich gebe auf und lächle resigniert zurück.
Nach dem Frühstück gehe ich noch kurz in den kleinen der Herberge angeschlossenen Garten hinaus. Es ist früh am Morgen, die Sonne kommt langsam hinter den Wolken hervor, und am Horizont kann ich bereits einen Streifen blauen Himmels erhaschen. Das Gras ist feucht vom Tau und duftet wunderbar frisch. An einigen Blumen, die aussehen wie Hyazinthen, hängen vereinzelt Wassertropfen, in denen sich das aufkommende Tageslicht glitzernd spiegelt. Ich atme einige Male ganz bewusst tief ein und schaue auf das Panorama der Pyrenäengipfel vor mir. Dann also dort oben hinauf.
Aus dem Schlafsaal hole ich meinen Rucksack. Außer einem jungen Pärchen ist niemand mehr hier. Ich glaube, die zwei sind Polen. Sie dürften in meinem Alter sein und sind sehr freundlich. Gestern Abend kamen wir gleichzeitig in der Herberge an. Das rothaarige, hübsche Mädchen wirkt ein wenig schüchtern auf mich. Sie lächelt häufig in meine Richtung, blickt dann aber immer wieder schnell zu Boden, sobald ich ihren Blick erwidere. Er hingegen ist äußerst aufgeschlossen. Als ich meine Schuhe perfekt geschnürt und meinen Rucksack geschultert habe, verabschiede ich mich von den beiden. »Buen Camino!«, ruft er. Wow! Mein erstes »Buen Camino« auf dem Jakobsweg. Ich gebe es strahlend zurück. Jetzt kann die Reise wirklich beginnen.
Gegenüber der Herberge befindet sich ein kleines Geschäft, ein Pilgerausstatter, bei dem ich mir Hut und Wanderstab kaufe. Zum Glück haben sie schon geöffnet. Im Pilgerbüro gestern Nacht hatte mir der ältere Herr, der mir auch den ersten Stempel in mein Credencial gedrückt hat, versichert, dass ich sterben, mindestens aber unter der heißen sengenden Sonne der Pyrenäen zusammenbrechen würde, wenn ich keinen Hut mit ordentlicher Krempe tragen würde. Es gäbe dort nirgends Unterstand, ohne Hut sei ich also verloren. Ich gehe mal davon aus, dass er die Situation ein klein wenig dramatisiert hatte, will aber dennoch ungern ohne Kopfbedeckung losziehen. In dem kleinen Geschäft finde ich relativ schnell einen hübschen Hut, der mir gefällt. Beim Stab dauert die Suche dann schon etwas länger. Die Verkäuferin versucht die ganze Zeit, mich zu einem Paar Teleskopstöcke zu überreden. Die möchte ich aber nicht. Ich bin hier als Pilgerin, nicht als Bergsteigerin. Also kaufe ich mir einen ganz einfachen hübschen Holzstock mit einer eingeritzten Jakobsmu- schel am oberen Ende. Sie wirkt enttäuscht, vielleicht hatte sie sich mehr von meinem Einkauf erhofft, verkauft mir dann aber doch – wenn auch etwas resigniert – das, was ich haben will. Ich überlege kurz, ob der ältere Herr aus dem Pilgerbüro eventuell der Ehemann, Schwager oder Bruder der Verkäuferin sei und ihr mit seinem angsteinflößenden »Ohne Hut bist du hier verloren, mein Kind« nur zu ein bisschen Umsatz verhelfen wollte. Schnell verwerfe ich den Gedanken aber wieder, denn gegen einen Sonnenbrand wird mich das Indiana-Jones-Teil allemal schützen, und das allein ist den Kauf wert. Den Hut binde ich vorerst an meinem Rucksack fest, schaue mich noch einmal vor dem Geschäft um und wandere rechts die Anhöhe hinauf, schnurstracks dem Weg folgend. Es ist 8:00 Uhr.
Saint-Jean ist ein romantisches mittelalterliches Städtchen, bestehend aus bunten urigen Fachwerkhäusern, mit blumengeschmückten Balkonen, die die alte Kopfsteinpflasterstraße säumen. Über der Stadt mit ihren rund 1.400 Einwohnern thront erhaben das Château de Mendiguren, ein 1191 erbautes Schloss, das später zur Zitadelle umgebaut wurde.
Nach kurzer Zeit komme ich an ein steinernes Tor, das mir den Weg hinaus aus dem Ort weist. In meinem Reiseführer heißt es, die Porte d’Espagna sei das Tor zu den Pyrenäen. Voller Be- wunderung bleibe ich stehen. Als ich nähertrete und mir das am Stein angebrachte bronzene Schild genauer ansehe, stutze ich: »La Porte Saint-Jacques« steht darauf geschrieben, »UNESCO World Heritage 1998«. Eigentlich sollte dieses Tor doch Porte d’Espagna heißen – ist das vielleicht die freie französische Über- setzung? Angeblich mögen sich die beiden Nachbarn hier an der Grenze nicht besonders, aber ist das Grund genug, gleich das ganze Tor umzubenennen, nur damit nichts auf Spanien hindeutet? Ich laufe noch ein gutes Stück weiter den Berg hinauf, ge- nieße die Aussicht, grüße die Menschen, die an mir vorüberzie- hen, wundere mich aber doch immer mehr. Kein einziger Pilger ist mir bisher begegnet. Nicht einen habe ich gesehen, seit ich das Pilgerbüro in Saint-Jean passiert habe. Vielleicht sollte ich um- kehren und nach dem Weg fragen? Allzu weit bin ich schließlich noch nicht gelaufen, und wegweisende Muschelzeichen habe ich auch noch nicht entdecken können. Ich bin hoffentlich nicht die Einzige, die den Weg nicht kennt.
Also laufe ich zurück in die Stadt, muss mir aber nicht einmal die Blöße geben und nachfragen, wo der Jakobsweg entlangführt. Eine Gruppe von Pilgern zieht munter entgegen der Richtung, aus der ich gerade gekommen war. Auch vor ihnen laufen Pilger – einzeln, als Paar, in Grüppchen. Es ist wirklich typisch. Da gibt es nur zwei Richtungen, und ich entscheide mich prompt für die falsche. Im Gehen schlage ich den Reiseführer auf. Ein auf- merksamer Blick hinein hätte vorab genügt, um nicht mit dem ersten Schritt als Pilger in die verkehrte Richtung zu laufen. Dort steht: »Gehen Sie bergab durch die Rue de la Citadelle.« Bergab! Als ich an der tatsächlichen Porte d’Espagna ankomme, ist mein Ärger schon wieder verflogen, denn nun öffnet sich auch mir das Tor zu den Pyrenäen. [...]
Angekommen!
»Mit der Dankbarkeit geht die Gewissheit einher.
Die Gewissheit, dass alles gut wird,
die Gewissheit, dass ich es hinkriege, dass ich
mein Leben meistern kann, komme, was wolle.«
Finisterre (15. Oktober)
[...] Ich sitze sicher eine gute Stunde oder länger hier auf meinem schroffen Felsen und blicke auf das graue, dunkle Meer unter mir. Gelegentlich brechen ein paar Sonnenstrahlen durch die dichte Wolkendecke und färben das Meer an der Stelle, wo sie auf seine Oberfläche treffen, leuchtend türkis. Es ist unbeschreiblich, wie glücklich ich in diesem Moment bin. Ich sitze mit nichts hier am Meer, aber mich erfüllt ein ganz warmes Gefühl, ein Gefühl und eine Überzeugung, dass alles, was bis hierhin passiert ist, richtig war. Nie hätte auch nur irgendetwas davon nicht passieren sollen. [...]
Wenn ihr noch tiefere Einblicke in das Buch selbst, oder in die Themen "Wie veröffentliche ich ein Buch?", "Wie sieht so ein professioneller Schreibprozess aus?" erhalten möchtet, kommt doch am 30. August um 19:30 Uhr zu meiner Lesung bei Heymann in Wedel. Karten für die Veranstaltung bekommt ihr ganz einfach über die Website der Buchhandlung. Ich freue mich über jede und jeden die/der dabei ist.
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